In diesen Zeiten, wo die Ignoranz der Wahrheit in Hass und blinder Wut ausgelebt wird, wo die großen politischen Kräfte dieser Welt Gewalt und Unterdrückung propagieren und das individuelle Gewinnstreben scheinbar jegliches menschliches Gewissen außer Kraft zu setzen scheint – in so einer Zeit frage ich mich, was ist eigentlich wahre Autonomie?

Wenn ich mir den lächelnden, freundlichen und nicht selten vor Glück kichernden Dalai Lama anschaue, denke ich, da muss es etwas geben, was jenseits aller Welterscheinungen in der Natur unseres Seins liegt, was diese tiefe und gütige Glückseligkeit unterstützt. Es muss eine Art der inneren Autonomie, eine essentielle Seinsweise geben, die unsere Seele mit dem tiefen Glück des Selbst-Seins tränkt und uns gleichzeitig wach, voller Mitgefühl, voller Liebe und Weisheit in der Welt sein und wirken lässt.

Diese Zeiten, in denen wir leben, und in denen nun anscheinend eine Weltordnung umgekrempelt wird, die ich persönlich irgendwie beinahe als natürlich und gegeben hingenommen habe, machen mir einen gewissen Dämmerzustand bewusst, aus dem ich nun aufwache. Mit meinen 56 Jahren bin ich als Kind kriegsversehrter Eltern in dieser „Nachkriegsordnungsidentifikation“ groß geworden, in der das Böse in der Vergangenheit liegt (oder irgendwie weit weg), in der es einen Konsens darüber gibt, dass Frieden und Freiheit das höchste Ziel sind und alle fleißig danach streben. So im Großen und Ganzen jedenfalls. Im „Westen“, dem schönen, bunten Konsumparadies.

Und nun sehe ich, dass das nicht so ist. Dass sehr viele Menschen Zerstörung und Ausbeutung in Kauf nehmen, um den kurzfristigen, persönlichen Teilvorteil zu sichern. Denn natürlich kann man Geld statt Hingabe, Gier statt Liebe und Rücksichtslosigkeit statt Mitgefühl nicht wirklich als einen Vorteil betrachten. Wo stehen wir als Menschheit? Wo stehe ich als Mensch? Wo bin ich rücksichtslos? Wo verrate ich mich selbst für ein bisschen Zugehörigkeitsgefühl, für ein bisschen „Genuss“?

Die Auflösung dieser „Nachkriegsordnungs-Über-Identifikation“ geht interessanterweise nicht mit mehr Ängsten und Unsicherheiten einher. Ich habe vielmehr das Gefühl, klarer zu werden. Es ist nicht nur eine familiäre Echsenhaut, die ich da abstreife, sondern etwas Größeres. Es hat etwas mit meinem Platz in der Weltgemeinschaft, in der Menschheitsseele zu tun. Ich sehe, wie ich Teil der Verblendung bin, Teil der Ignoranz, Teil der Liebe und der Sehnsucht nach Wahrheit. Ich kann mich mehr und mehr als einen Ausdruck dieser „Gesamtseele“ sehen. Und je mehr mir das möglich ist, desto mehr Mitgefühl und Liebe ist auch möglich, mir gegenüber und der Welt, der Menschheit gegenüber.

Der Diamond Approach hat mich in fast 25 Jahren des Studiums so viel verstehen lassen, dass ich nun die Natur unseres Seins, die Natur der Menschenseele wahrnehmen kann. Diese Liebe, die alles ist und die so unglaublich viel größer ist, als alles, was wir als Menschen vermasseln können.

Letzten Herbst hatte ich (nach wochenlanger intensiver Quälerei mit vernichtenden Selbst-Hass-Attacken) ein tiefes Erlebnis, was die Größe der Liebe unserer Wahren Natur betrifft und was in dem folgenden Gedicht von Thomas von Aquin genau zum Ausdruck gelangt.

Ich sagte zu Gott:
„Lass mich dich lieben.
Und er antwortete: ‚Welchen Teil?‘
‚Alles von dir, alles von dir‘, sagte ich.
‚Mein Lieber‘, sprach Gott, ‚du bist wie eine Maus,
die einen Tiger schwängern will,
einen Tiger schwängern, der noch nicht einmal läufig ist.
Das ist ein Kunststück, das deinen Mut und deine Kraft
weit übersteigt.
Du würdest vor mir fliehen, wenn ich meine
Maske abnähme.‘
Wieder sagte ich zu Gott,
‚Geliebter, ich muss dich lieben – jeden Aspekt, jede Pore.‘
Und dieses Mal sagte Gott,
‚Es gibt einen hässlichen Makel an meinem Körper,
obwohl er nur ein winziger Teil meines Wesens ist –
Könntest du ihn küssen, wenn er enthüllt würde?‘
‚Ich will es versuchen, Herr, ich will es versuchen.‘
Und dann sagte Gott,
‚Dieser Makel ist all der Hass und die
Grausamkeit in dieser
Welt.‘

I said to God, ‘Let me love you.’
And he replied, ‘Which part?’
‘All of you, all of you.’ I said.
‘Dear’ God spoke, ‘You are as a mouse wanting to impregnate
a tiger who is not even in heat. It is a feat way beyond your courage and strength.
You would run from me
if I removed
my mask.’
I said to God again,
‘Beloved I need to love you – every aspect, every pore.’
And this time God said,
‘There is a hideous blemish on my body,
though it is such an infinitesimal part of my Being-
could you kiss that if it were revealed?’
‘I will try, Lord, I will try.’
And then God said,
‘That blemish is all the hatred and cruelty in this world.’

Was ich persönlich als wahre Autonomie dieser Tage erlebe, fühlt sich an, wie ein natürlicher Zustand meiner freien und unverfangenen Seele. Ich verstehe, was mit „Perle“ gemeint ist. Es ist die Autonomie eines weisen Herzens, das den Verstand an die Hand nehmen kann, wenn er sich mal wieder in Hass und Missgunst verstrickt. Diese Autonomie fühlt sich an wie eine Art des Zu-mir-selbst-Stehens, die gegenseitige Zugewandtheit von Herz und Seele, ein Ganzsein, das von einer Weisheit geleitet wird, die wie eine Wärme von einem tiefen Daseinsgrund abstrahlt und jenseits meiner persönlichen Geschichte, Fähigkeiten oder Errungenschaften liegt. Ich bin getragen von einer Präsenz, die in sich heil ist, liebevoll, sicher, fähig, stark und ganz und gar menschlich.

Hass will immer etwas schützen. Etwas schützen zu wollen, ist immer ein Ausdruck von Liebe. So einfach ist es, in einer hassvollen Tat einen Ausdruck von Liebe zu sehen, und so wenig können wir uns tatsächlich vom Kern unseres Seins entfernen. Das ist radikal. Radikal wahr.

Es ist wieder einmal, als ob ich jetzt erst beginne, zu verstehen, was es heißt, zu sein, wo ich bin. Mit mir hier zu sein, in Wahrheit, in liebevoller Zugewandtheit und Offenheit mir und dem Leben gegenüber. „Sei, wo du bist“, „Starte genau da, wo du gerade bist“ – wie oft habe ich diese Aufforderung nun schon gehört! Und es scheint, als könnte mir das langsam tatsächlich gelingen!

Liebe Grüße
Kathryn

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