Lernen, durch das Ego hindurchzusehen

Teilübersetzung eines Interviews mit Hameed Ali ins Deutsche von Claudia Hoppe

[Aus InZicht (EinSicht) Ausgabe 1, 2007 Learning to See Through the Ego | Ridhwan-Foundation]

A. H. Almaas erläutert die Rolle der modernen Psychologie in seiner eigenen Arbeitsweise und kommentiert den Inhalt seines neuesten Buches Brilliancy, in dem die menschliche Intelligenz als Ausdruck unpersönlichen Bewusstseins beschrieben und erforscht wird.

Frage: „Sie arbeiten mit Gruppen im Rahmen des ‚Diamond Approach‘. Worin besteht der Kern dieses Ansatzes?“

Almaas: Der Diamond Approach ist eine Methode, die auf spirituelle Transformation hinarbeitet. Das Besondere daran ist, dass er eine auf den Westen ausgerichtete Sprache verwendet und die westliche Psychologie integriert. Andere Ansätze bedienen sich hauptsächlich altertümlicher Begrifflichkeiten – Weisheit, die schon vor langer Zeit aus dem Osten importiert wurde. Wir hingegen nutzen moderne psychologische Einsichten.

Frage: „Ist nicht das Ziel der modernen Psychologie, gerade das Ego zu stärken?“

Almaas: Wir nutzen Psychologie, aber unser Ziel ist nicht dasselbe. Wir setzen sie lediglich ein, um das Ego zu verstehen. Die Psychologie liefert sehr nützliche Einsichten in das Ego – wie es sich entwickelt, woraus es besteht. Sobald man versteht was das Ego ist, besteht die Möglichkeit, dass das Ego etwas leichter und durchlässiger wird, sodass man einen besseren Blick auf die spirituelle Realität erhält.

Frage: „Aber ist das Ego nicht nur eine Idee?“

Almaas: Das Ego ist eine Idee. Aber es beeinflusst unser Bewusstsein. Es verleiht uns ein bestimmtes Gefühl von Identität. Es steht uns im Weg, weil wir glauben, dass das unser wahres Wesen ist. Wir müssen lernen, durch das Ego hindurchzusehen, lernen, woraus es besteht: Konzepte, Ideen, Annahmen, dem Selbstbild und so weiter. Wir müssen lernen, all das zu durchschauen, damit wir unsere Rüstung ablegen und offener werden können. Im Prinzip ist das Ego nichts weiter als eine Entwicklungsphase. Bewusstsein und Gewahrsein werden durch das Ego strukturiert. Auf der Grundlage einer gesunden Ego-Struktur kann man den nächsten Schritt tun. Eine starke Ego-Struktur ist dafür Voraussetzung. Wenn man diesen nächsten Schritt nicht macht, wird das Ego zu einem Hindernis, das einen ernsthaft einschränkt.

Frage: „Wie sehen Sie die Rolle des Lehrers? Denken Sie, dass eine direkte Übertragung von Wissen vom Lehrer auf den Schüler möglich ist?“

Almaas: Sie ist nicht nur möglich, sondern notwendig, wenn spirituelle Transformation stattfinden soll. Ein Lehrer muss über einen bestimmten Grad an Entwicklung, Einsicht, spiritueller Erfahrung und Weisheit verfügen, das er weitergeben kann. Wenn ein Lehrer spirituell ausreichend entwickelt ist, geschieht die Übertragung ganz von selbst – mühelos.

Frage: „Also braucht es keine Worte?“

Almaas: Genau. Geistige Übertragung geschieht wortlos. Eine Übertragung dieser Art ist ein energetisches Phänomen. Während meiner Treffen benutze ich Worte, genau wie andere Lehrer. Während ich über spirituelle Realität spreche, übermittelt meine eigene Präsenz etwas von dieser Realität. Schüler, die offen und sensibel dafür sind, nehmen das auf. Gleichzeitig versuchen sie, meinen Worten zu folgen. Beides wirkt zusammen – die Verbalisierung und die Energie.

Frage: „Es scheint mir, dass das Zuhören der Worte, also der Versuch, dem Gesagten zu folgen, die Energie eigentlich blockieren würde.“

Almaas: Das könnte sein. Deshalb sagen wir den Schülern immer, dass sie den Worten folgen sollen, aber gleichzeitig entspannt und empfänglich bleiben müssen. Das hängt mit der Art zusammen, wie wir spirituelle Übertragung nutzen. Sie unterscheidet sich von anderen Ansätzen. Der tibetische Ansatz zum Beispiel verwendet spezielle Rituale, um Übertragung zu ermöglichen. Die Rituale sind getrennt vom Inhalt, der übertragen werden soll. Wir machen das nicht so. Für uns ist die Übertragung ein integraler Bestandteil unseres Ansatzes. Während des gesamten Lernprozesses – durch den der Schüler langsam, aber sicher präsenter und offener wird – erhält er einen klareren Blick auf die Realität. Geistige Übertragung geschieht fortlaufend, wenn der Schüler dafür offen ist.

Frage: „Ihr neuestes Buch heißt Brilliancy (Brillanz). Was versuchen Sie in dem Buch zu erklären?“

Almaas: Der Zweck des Buches besteht darin, deutlich zu machen, dass Intelligenz eine spirituelle Eigenschaft ist. Sie ist nichts Funktionales, nichts Mentales. Intelligenz sorgt dafür, dass dein Verständnis auf die optimalste und effizienteste Weise funktioniert. Sie ist eine spezifische Eigenschaft, die dein Bewusstsein besitzen kann. In diesem Sinne ist sie eine spezifische Manifestation des Bewusstseins selbst.

Frage: „Sie beziehen sich auf Bewusstsein als etwas, das mit dem Individuum verknüpft ist. Ich sehe es viel mehr als etwas Unpersönliches.“

Almaas: Bewusstsein ist unpersönlich, aber es ist immer das was uns zu einer Person macht. Unser Bewusstsein ist eine Ausdrucksform des unpersönlichen Bewusstseins. „Dein“ persönliches Bewusstsein ist nicht „mein“ persönliches Bewusstsein. Aber letztlich sind beide Ausdrucksformen des einen unpersönlichen Bewusstseins. Es drückt sich auf persönliche Weise aus.

Frage: „In Ihrem Buch geben Sie an, dass Kinder ihre ursprüngliche, intuitive Intelligenz nach und nach verlieren. Sie scheinen die Tendenz zu haben, solche Prozesse aus einer psychodynamischen Perspektive zu erklären, besonders wenn es um die Rolle geht, die die Eltern dabei spielen.“

Almaas: Die Grundlage des Gewahrseins, das unpersönliche Bewusstsein, wird während der Entwicklung des Egos langsam stärker nach außen ausgerichtet. Ich sehe das nicht als einen psychodynamischen Prozess, sondern als ein Produkt der kognitiven Entwicklung – der Konzepte und Interpretationen, die sich in Bezug auf unsere Erfahrung der Welt formen. Wir verlieren wesentliche Aspekte unserer Präsenz, wir werden von ihnen abgeschnitten, meist als Folge der Schwierigkeiten, mit denen wir in unserer frühen Kindheit konfrontiert sind, insbesondere in der Interaktion mit unseren Eltern und der Umgebung, in der wir aufwachsen. Also gibt es psychodynamische Ursachen für den allmählichen Verlust des ursprünglichen Gewahrseins.

Um ein Beispiel zu geben: Wenn du das Gefühl hast, nicht geliebt zu werden, oder wenn deine eigene Liebe nicht gesehen, anerkannt und wertgeschätzt wird, wird die Erfahrung des reinen Gewahrseins von Liebe beschädigt. Wenn du lernst, diese Problem zu verstehen und damit zu arbeiten, kannst du dir wieder bewusst werden, was Liebe ist – dass sie etwas ist, das als reines Gewahrsein erfahren werden kann, eine Präsenz, die die Form von Liebe angenommen hat. Dasselbe gilt für andere Formen: Intelligenz, Stärke und so weiter.

Wenn du Liebe, Intelligenz oder Stärke als reine Eigenschaften des Gewahrseins erkennst, kannst du lernen, in diesem Gewahrsein präsent zu bleiben. Es ist ein relativ einfacher Weg, wieder des unpersönlichen Gewahrseins gewahr zu werden – einer Präsenz ohne Eigenschaften. Die traditionellen Lehren beginnen mit der Verwirklichung des unpersönlichen Gewahrseins, und die reinen Aspekte des Gewahrseins entstehen als Folge dieser Verwirklichung. Der Diamond Approach geht den umgekehrten Weg: Zuerst werden die reinen Aspekte des Gewahrseins verwirklicht, damit sie einen Brückenkopf für die Verwirklichung des unpersönlichen Gewahrseins bilden können. Dieser Ansatz macht die unpersönliche Präsenz für mehr Menschen leichter zugänglich, weil die Aspekte des persönlichen Gewahrseins leichter zu erkennen sind als die des unpersönliche Gewahrseins.

Frage: „Vielen Dank für das Gespräch.“

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